Das Gegenteil von Aktivität

Ich lese nach vielen Jahren wieder in Stefan Kleins Zeit als Lebenskunst. Darin thematisiert er unter anderem,dass Aktivität gerne als etwas Positives gesehen wird, während Inaktivität oder Nichtstun negativ konnotiert ist. Bei Worten wie Aktivität, Effizienz und Geschwindigkeit geht es um Begriffe,die vermeintlich den alternativlos richtigen Weg bezeichnen. Für das Gegenteil sind Worte wie Inaktivität, Langsamkeit und (Zeit)Verschwendung beliebt,

Er schlägt vor stattdessen emotional positiv aufgeladene Worte zu benutzen.

Also:

Aktivität → Muße und Ruhe

Effizienz →Gelassenheit und Genuss

Geschwindigkeit → Besinnung und Konzentration

Diese Wortwahl erzeugt ein anderes, besseres Framing, wenn wir über Alternativen zum Beschleunigungswahn reden.



Der gesunde Verstand (bon sens) ist die bestverteilte Sache der Welt, denn jedermann meint, damit so gut versehen zu sein, dass selbst diejenigen, die in allen übrigen Dingen sehr schwer zu befriedigen sind, doch gewöhnlich nicht mehr Verstand haben wollen, als sie wirklich haben.

Descartes – Diskurs über die Methode

Lange Zeit glaubte ich, das Descartes diesen Satz ironisch meinte. Aber nein, er meinte das völlig ernst. Der Verstand war nach seiner Ansicht wirklich gut verteilt. Ein paar Zeilen später heisst es dann aber

Denn es ist nicht genug, einen guten Kopf zu haben; die Hauptsache ist, ihn richtig anwenden.

Oder etwas moderner: du hast genug Verstand, also benutze ihn gefälligst.

Entdecke ich da Ironie?


Die Sumpfzypresse

Vor gut einem Jahr war ich fasziniert von den Sumpfzypressen im botanischen Garten der Uni Bochum. Überbleibsel aus dem Tertiär! Mit Atemknie!

Durch die Gassirunden mit Frida entdeckte ich im Frühjahr, dass hier um die Ecke auch eine Sumpfzypresse steht.

Sumpfzypresse (der Baum in der Mitte)

Auch sie hat natürlich Atemknie.

Eine ganze Reihe Atemknie

Das war für mich ein Oh, wie schön ist Panama-Moment. Ich habe das Tertiär gleich um die Ecke; ich muss da gar nicht extra hinfahren. Aber andererseits wäre mir ohne den Ausflug nach Bochum nie das Besondere direkt vor meiner Nase aufgefallen.

So gesehen hat das Reisen nicht nur den Sinn etwas Neues oder Fremdes zu entdecken, sondern auch das Neue und Fremde in der alltäglichen Umgebung.

Es hilft, die Wahrnehmung zu erweitern.


Bertrand Russell über das Altern

If you have wide and keen interests and activities in which you can still be effective, you will have no reason to think about the merely statistical fact of the number of years you have already lived, still less of the probable shortness of your future.

Bertrand Russell – How to Grow Old in „Portraits From Memory And Other Essays“

Da ich schon länger in einem Alter bin, in dem ich mehr Lebenszeit hinter, als vor mir habe, lohnt es sich über das Altern nachzudenken.

Russells Vorschlag ist einfach: interessiere dich für die Welt und sei aktiv, dann drehst du dich nicht so bauchnabelschauend um dich selbst und hast mit dem Alter weniger Probleme. Das ist durchaus glaubhaft, wenn man sich sein Leben anschaut. Er wurde 97 und war bis zu seinem Tod aktiv.

Der Ratschlag kommt von jemand, der nicht nur weltbekannter Mathematiker, Philosoph und Pazifist war, sondern auch noch mit einem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde. Ein ziemlich großes Spektrum. Beeindruckend. Etwas einschüchternd.

Glücklicherweise muss ich da nicht konkurrieren, sondern mir erst einmal nur Gedanken darüber machen, ob er da recht haben könnte. Und wenn ja, wie es denn so um meine Interessen bestellt ist.

Mindestens eine Sache fällt mir ein, die mich wach hält und der ich bis ins hohe Alter nachgehen kann: bloggen.

Schon mal ein Anfang.


Essentialismus und Minimalismus

Ich würde meine Methode deshalb auch nicht Minimalismus, sondern Essentialismus nennen: Ich verzichte auf Dinge, die mir nichts bedeuten, gebe aber Geld für Sachen aus, die andere Leute vielleicht als sinnlosen Luxus betrachten, guten Wein und gebundene Bücher zum Beispiel. Es geht darum, herauszufinden, was einem persönlich wirklich wichtig und unverzichtbar ist. Der Rest kann weg.

Meike Winnemuth – Bin im Garten

Vor gut zehn Jahren bevölkerten plötzlich recht viele Minimalismus-Blogs das Netz. Ich fand das sehr unterhaltsam, da ich selbst mit allzu viel Zeug nichts anfangen kann und ich auch nicht gerne Sachen kaufe. Aber relativ schnell breitete sich da so eine kleinkarierte Erbsenzählerei aus, die sich in einem immer absurderen Wettbewerb zum Thema „wer kann wohl mit den wenigsten Dingen leben“ äußerte. 100 Dinge müssen doch wohl genug sein! Ist ein Paar Socken jetzt ein Ding oder zwei?

700 Jahre früher gab es das schon mal, als die Franziskaner über die richtige Umsetzung des Armutsideals stritten. Da wurden dann von einer Fraktion die Kutten gekürzt, sodass sie nur noch knapp über den Po reichten. Der Streit wurde so erbittert ausgetragen, dass letztlich einige Verfechter des extremeren Armutsideals auf dem Scheiterhaufen endeten.

Dagegen war die Minimalismusdebatte harmlos. Aber diese humorlos verkniffene Auslegung von Lebensentwürfen mochte ich noch nie. Und hatte so immer das Gefühl, dass mich Minimalist nicht passend beschreibt.

Essentialismus dagegen finde ich sehr sympathisch und menschlich. Er kommt nicht mit einem erhobenen Verzichtszeigefinger, sondern richtet die Aufmerksamkeit auf das, was für den einzelnen Menschen wichtig ist. Und das ist für jeden etwas anderes. Den überflüssigen Rest wegzulassen, vereinfacht die Angelegenheit ohne Verzicht. Gefällt mir.

Das Buch von Meike Winnemuth schenkte mir Daniela 2020 zum Geburtstag. Ich habe es nicht nur gerne gelesen, sondern habe auch was daraus mitgenommen. Wie das Zitat oben belegt, das mir beim erneuten Blick in das Buch auffiel.


Der Mittagsschlaf und ich

Der Mittagsschlaf ist eine Inbesitznahme der eigenen Zeit, die sich dem Controlling entzieht. Die Siesta ist emanzipatorisch.

Thierry Paquot – Die Kunst des Mittagsschlafs

Seit ich mich häufiger im Homeoffice aufhalte, wäre der Mittagsschlaf organisatorisch eigentlich gar kein Problem. Trotzdem findet er – wenn überhaupt – nur an Wochenenden oder Feiertagen statt. Was mich an einem erholsamen Einnicken hindert, ist die gedankliche Verstrickung in die Arbeit. Sie muss erst fortgeräumt werden, bevor das Dösen gelingen kann. Gefühlt könnte das aber so lange dauern, dass dann der Feierabend schon in Sicht wäre. Den Mittagsschlaf als Emanzipation gegen die Zumutung der werktäglichen Arbeit einzusetzen, scheitert bei mir, leider.

Andererseits weist Paquot selbst darauf hin, dass besonders kluge/durchtriebene Arbeitgeber ja den Mittagsschlaf anordnen könnten, da bekanntlich ein Powernap die Effizienz des Arbeitenden steigert.

So gesehen ist mein Unvermögen zu einer werktäglichen Siesta und das Verlagern dieses angenehmen Zustandes auf freie Tage letztlich dann doch ein emanzipatorischer Akt.


Formale und substanzielle Freiheit

In Anfänge von David Graeber und David Wengrow bin ich auf zwei Aspekte des Begriffs Freiheit gestoßen, die viel von nicht nur meinem Unbehagen an unserer Gesellschaftsordnung erklären.
Auf der einen Seite ist da die formale Freiheit, unser durch das Grundgesetz garantierte Inbegriff der Freiheit. So haben wir zum Beispiel die Freiheit, jederzeit zu reisen, wohin wir wollen.
Dem gegenüber fragt die substanzielle Freiheit danach, was sich tatsächlich umsetzen lässt. So erlaubte erst das 9-Euro-Ticket vielen Menschen wenigstens in benachbarte Städte oder mit etwas Geduld in andere Bundesländer zu reisen. Genau das ist das Problem: erst mit zunehmendem Reichtum habe ich auch die Möglichkeit, die formale Freiheit auszukosten. Ohne Geld bleibt die formale Freiheit bedeutungslos.
Genau das ist das Missverständnis bei der Freiheit in den westlichen Ländern: garantiert wird formale Freiheit, erwartet aber substanzielle Freiheit. Die Enttäuschung und Frustration kann überall beobachtet werden.


Solidarität

Es ist nicht Liebe zu meinem Nachbarn – den ich vielfach gar nicht kenne -, was mich treibt, den Wassereimer zu ergreifen und nach seinem brennenden Hause zu eilen; was mich treibt, ist ein viel weiteres, wenn auch unklares Gefühl, es ist ein menschlicher Solidaritäts- und Sozialtrieb.

Pjotr Kropotkin

Dieses Zitat aus der Einleitung zu Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt bringt das Prinzip der Solidarität auf den Punkt. Es beruht darauf, dass jeder etwas für die Gesellschaft tut. Nicht aus Liebe zu seinem Nächsten (wie Rousseau es herbei fantasierte) , sondern aus einem ganz praktischen Kosten-Nutzen-Kalkül heraus. Die Leistungen für die Gemeinschaft kosten mich im Normalfall nur wenig, aber ich bekomme ein ungleich besseres Leben dafür, als wenn der Kampf von jedem gegen jeden herrschen würde.

Kropotkin untersuchte bereits vor 120 Jahren dieses Prinzip, angefangen bei den Ameisen bis hin zum Menschen und zeigte dabei, wie gut es funktioniert. Eine interessante Lektüre, die auch Auswirkungen auf die moderne Interpretation von Darwins Werk hat.

Gerade beim Menschen geht das aber nicht ohne Widerspruch. Wir sind nun mal komplizierter als Tiere und so gibt es immer wieder Einzelne, die das System unterlaufen wollen. Darauf müssten Gemeinschaften schon immer reagieren. Im schlimmsten Fall führte das zur härtesten Strafe, der Verbannung

Das System funktioniert am Besten wenn sich alle daran halten. Je mehr Egozentriker auftreten, die nicht bereit sind ihren Beitrag zu leisten, umso so geringer ist der Nutzen. Zu Ende gedacht landet man so bei dem Kampf von jedem gegen jeden (der Leviathan lässt grüßen) Es ist also überlebenswichtig das System am Laufen zu halten.

Sprung zur aktuellen Situation. Impfverweiger füllen die Intensivstation in einem Ausmass, dass für die restliche Versorgung nicht genug Kapazitäten verbleiben. Sie verhalten sich wie der Nachbar, der seine Freiheit auslebt, indem er nicht zum Löschen kommt.

Für mich ist das der Punkt, ab dem die Gemeinschaft Druck auf die Egozentriker ausüben muss. Verbannen geht nicht.
Bleibt die Impfpflicht