Eine epikureeische Gratwanderung

Epikurs Haltung zu all dem, was über die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse hinausgeht, ist klar: Es trägt nicht zu unserem Glück bei; das Glücksmaximum ist bereits erreicht. Er käme aber auch nie auf die Idee, uns zu verbieten, beispielsweise sehr gut zu essen. Aber er rät zur Vorsicht: wenn wir uns an das gute Essen gewöhnen, so fehlt uns etwas, wenn wir es nicht mehr bekommen. Unlust ist die Folge.
Die Haltung zu allem, was über die Deckung der Grundbedürfnisse hinausgeht, sollte also immer mit Distanz verbunden sein, um es richtig genießen zu können und um den Genuss nicht mit Ängsten zu vergällen.
So weit zur antiken Theorie. Nehmen wir an, dass ich etwas richtig gerne tue. Beispielsweise Philosophieren. Oder malen. Es sind keine Grundbedürfnisse, ich müsste also eine distanzierte Haltung annehmen. Aber wie soll diese ausgestaltet werden, ohne dass auf der einen Seite Abhängigkeit entsteht, aber auf der anderen Seite die Freude und Begeisterung erhalten bleiben?
Schwierig. Stoff zum Nachdenken.

Sind religiöse Gesellschaften „besser“?

Vor ein paar Tagen wurde ich durch Florian Rötzers Sind religiöse Gesellschaften „besser“? auf die dahinter steckende Untersuchung aufmerksam: Cross-National Correlations of Quantifiable Societal Health with Popular Religiosity and Secularism in the Prosperous Democracies. Der Autor Gregory S. Paul kommt bei dieser ersten Annäherung an die Vorteile von Religion für die Gesundheit einer Gesellschaft zu interessanten Schlüssen. Er ist vorsichtig genug, nur Korrelationen aufzuzeigen und keine Kausalitäten zu behaupten. Aber es scheint unabweisbar zu sein: Die amerikanische Gesellschaft als Prototyp einer religiösen Industriegesellschaft hat deutlich mehr Probleme mit Selbstmorden und Teenagerschwangerschaften als die eher laizistischen europäischen Staaten. Der von christlichen Fundamentalisten behauptete Vorteil für die Gesellschaft ist nicht nachweisbar, eher das Gegenteil.
Vielleicht sollte man den Menschen etwas von Epikur erzählen und ihnen ein paar durch die Religion induzierte Ängste nehmen. Aber ich bin Atheist, ich habe da leicht reden.


Exzerpte

Zu Marc Aurels Zeiten – also lange vor Erfindung von Fotokopierern und Zwischenablagen – war es eine übliche Technik, sich aus (zu der damaligen Zeit extrem teuren) Büchern Teile abzuschreiben. Dass dabei nur die Teile kopiert wurden, die dem Schreiber wertvoll erschienen, versteht sich bei diesem doch etwas mühsamen Verfahren von selbst. Auf diese Weise konnte ein gebildeter Römer sich eine Sammlung von Textstellen schaffen, die sich in ihrer Verdichtung perfekt als Ausgangspunkt für eigene Gedanken eignete.
Diese Funktion als Katalysator macht eine Textsammlung auch heute noch zu einem interessanten Instrument der Lebenskunst.
Dabei ist es natürlich nicht mehr notwendig, das Verfahren handschriftlich durchzuführen, denn die Technik macht das Kopieren zu einer mühelosen Tätigkeit. Zu mühelos. Denn allzu leicht kann so Qualität durch Quantität ersetzt werden.
Andererseits bleibt mithilfe moderner Technik – vorausgesetzt man beschränkt sich auf wichtige Exzerpte – mehr Zeit zum Nachdenken. Und darum geht es ja eigentlich.


Zeit fürs Glück

Eine Beweisführung, die an Trivialität kaum zu überbieten ist: Je mehr Dinge man benötigt um glücklich zu sein, um so weniger glücklicher wird man sein. Denn sich in den Besitz dieser Dinge zu bringen ist ein Aufwand (Geld verdienen etc.), der Zeit kostet und nicht unmittelbar glücklich macht. Die „glücksfreie“ Zeit nimmt also zwangsläufig zu Ungunsten der potentiell glücklichen Zeit zu.
Diese Gleichung gilt sowohl für Habenichtse wie für Milliardäre.
Durch Verzicht wird zwar niemand zwangsläufig glücklicher, aber er hat wenigstens mehr Zeit dazu.

Enthaltsamkeit

Foucault berichtet, dass sowohl Epikureer als auch Stoiker sich regelmäßig in Enthaltsamkeit – also beispielsweise Fasten – übten. Sie taten das allerdings aus sehr unterschiedlichen Gründen. Bei den Stoikern ging es darum, sich die Sicherheit zu verschaffen, dass man selbst auf dem Niveau von Sklaven, mit Sitte und Anstand und ohne eine Störung der Seelenruhe leben kann (einer der bekanntesten Stoiker – Seneca – war der reichste Mann Roms). Die Epikureer hingegen wollten sich mit dem Verzicht immer wieder in Erinnerung rufen, dass es nur wenig bedarf, um genussvoll zu leben und sich natürlich die Genüsse lebendig erhalten.
Eine moderne Variante des Verzichts lebte Thoreau. Er beschränkte sich auf das Lebensnotwendige, um frei sein zu können.
So unterschiedlich die Motive sind, so ist ihnen doch gemeinsam, dass es beim Verzicht nie um Selbstkasteiung und Leiden ging. Im Gegenteil: der Verzicht soll bei allen helfen, Leiden zu vermeiden und zu einem erfüllteren Leben beitragen.


Maßstab

Ich bin bereits über 350.000 Stunden alt. Das sollte mir zu denken geben, wenn ich das nächste mal ungeduldig werde, weil ich auf etwas warten muß.
Bemerkenswert, wie ein Wechsel der Einheit die Perspektive ändert.


Schächtelchen

Vor Jahren las ich in der Spektrum der Wissenschaft von einem Gedankenexperiment, das sehr schön illustriert, warum uns in der Jugend die Welt vielfältiger und abwechslungsreicher vorkommt als im Alter. Es war sinngemäß, wie folgt beschrieben:
Als Erstes stelle man eine große Anzahl kleiner Schächtelchen auf. Danach setze man sich auf einen Stuhl und beginne, mit Kügelchen um sich zu werfen. Jedes der Schächtelchen symbolisiert nun eine mögliche Erfahrung und ein Treffer ist der Moment, in dem man diese Erfahrung macht.
Es ist jetzt leicht nachzuvollziehen, dass man zu Beginn des Spiels häufig Schächtelchen zum ersten Mal trifft. Je länger das Spiel dauert, umso häufiger landet die zweite, dritte, x-te Kugel in einer Schachtel. Und um so seltener gelingt ein Ersttreffer.
Es ist eine Binsenweisheit, dass uns Neues wesentlich stärker im Gedächtnis bleibt als seine Wiederholungen.
Die Schlussfolgerung ist offensichtlich: Dadurch, dass die Anzahl neuer Erfahrungen pro Zeiteinheit beständig sinkt, wird das Leben im gleichen Maß fader. Wer das nicht möchte, der hat nur eine Möglichkeit: Aufstehen und neue Schächtelchen aufstellen.
Aber Vorsicht: Erfahrung heißt nicht notwendig angenehme Erfahrung. Die Schächtelchen symbolisieren nur ganz neutral Erfahrungen und sagen nichts darüber, ob sie uns angenehm ist. Das gilt auch für die neu aufgestellten Schächtelchen.
Wer davor Angst, der sollte ruhig auf seinem Stuhl sitzen bleiben und gar nichts mehr tun.


Vor dem Einschlafen

Die Klassiker der Selbstsorge empfehlen abends vor dem Einschlafen den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen und sich zu fragen, was gut gelaufen ist und an welchen Stellen man nicht mit sich zufrieden war. Das Ganze ist nicht als selbstquälerischer innerer Gerichtsprozess gedacht, sondern sollte wie die Überprüfung des Kofferinhaltes vor einer Reise ablaufen. Das Ziel ist es aus den alltäglichen Kleinigkeiten seine Lehren zu ziehen und nachzuhalten, ob man sich an die bereits gezogenen Lehren gehalten hat. Und alles andere sollte erfreuen und die Nachtruhe angenehmer gestalten.
Dieser Ratschlag ist – jedenfalls für mich – gut zu befolgen und macht das Leben etwas bewusster. Der Gegenpol zu diesem Rat, nämlich morgens gleich den anbrechenden Tag zu planen, ist zwar sinnvoll, aber für mich als ausgesprochenen Morgenmuffel nicht wirklich umsetzbar.