Nach oben schauen

Von einem Besuch im Palast der Projekte brachte ich folgendes Experiment mit: nach oben schauen. Das Übungsgerät in der Ausstellung als Anregung nutzend habe ich es heute morgen einmal beim Brötchenholen in abgewandelter Form ausprobiert: den Blick immer oberhalb der Horizontlinie halten. Es ist ungewohnt. Statistisch – wird in der Ausstellung behauptet – laufen wir meist mit gesenktem Blick durch die Gegend. Der Erfinder des Übungsgerätes ging davon aus, das der Blick nach oben zu einer positiveren Lebenseinstellung führt.

Mir jedenfalls kam es nach kurzer Zeit so vor, als ob mein Blick seine eigene Schwere hätte, die ihn in Richtung Erde ziehen würde. Natürlich bildete ich mir das ein, ab die Gewohnheit doch die meiste Zeit nach unten zu blicken, zeigte Wirkung. Aber interessanter noch war der Effekt auf meine Gedankenwelt. Ich war wesentlich mehr mit Schauen beschäftigt. Während der Blick nach unten mangels Ablenkung (Pflastersteine sind nicht wirklich interessant) Raum zum Nachdenken, schlimmstenfalls zum Grübeln, läßt, fordert beim Blick nach oben die Welt meine Aufmerksamkeit. Ob das dann tatsächlich zu einer positiveren Einstellung führt, weiß ich noch nicht. Aber wenigstens nahm ich mehr von der Welt wahr.

Noch ein Wort zum Palast der Projekte. Für meinen Geschmack war er zu textlastig und zu wenig visuell. Wenn man nicht gerade in der Gegend ist, reicht der Besuch der Website völlig aus. Sie ist sehr ausführlich.


Achenbach

Sicher kommt Gerd Achenbach das Verdienst zu die erste philosophische Praxis gegründet zu haben und sicher enthalten seine Bücher gute Gedanken, Aber dennoch empfinde ich sein Werk sehr zwiespältig. Das liegt sicher zum Teil an seinem mäandrierenden Schreibstil. Aber erheblich mehr stört mich sein eigenwilliger Umgang mit dem einen oder anderen Philosophen. Stellvertretend sei seine beiläufige Diskreditierung Epikurs genannt. Er tut dies ausgerechnet mit einem Zitat aus Malte Hossenfelders hervorragenden Buch über Epikur. Dort schreibt Hossenfelder an einer Stelle, dass Epikurs Verhaltensregeln heutzutage jedem Spiesserverein als Satzung gelten können.
Epikur nur etwas für Spiesser?
Liest man das Zitat im Zusammenhang, so wird klar, dass lediglich die rein äusserliche Rezeption von Epikur und Stoa gemeint ist. Hossenfelder will im Gegenteil darauf hinaus, dass bei genauerer Betrachtung die Lehren eine beachtliche Sprengkraft haben.
Achenbach verschweigt dem Leser an dieser Stelle also nicht nur, dass Hossenfelder eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte, sondern auch, dass das Zitat in gleichem Mass auch die Stoa trifft, auf die wiederum Achenbach grosse Stücke hält.
Hmm…


Freiheit zu

Bei Wilhelm Schmid traf ich auf einen eigentlich ganz einfachen Gedanken: die Unterscheidung zwischen „Freiheit von“ und „Freiheit zu“. Üblicherweise wird der Begriff Freiheit als „Freiheit von“ verstanden. Freiheit von Zwängen, Einmischung, Vorschriften etc. Die Freiheit allein so aufzufassen läuft aber ins Leere, denn nachdem ich mich von allem befreit habe, ist da nichts mehr. Eine so ausgelegte Freiheit ist ein negativer Begriff.
Es ist daher notwendig ihn zu ergänzen um die „Freiheit zu“. Also die Chance dieses oder jenes zu tun. Erst mit dem Aufgreifen dieses Aspekts kann Freiheit gelingen.


Eine epikureeische Gratwanderung

Epikurs Haltung zu all dem, was über die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse hinausgeht, ist klar: Es trägt nicht zu unserem Glück bei; das Glücksmaximum ist bereits erreicht. Er käme aber auch nie auf die Idee, uns zu verbieten, beispielsweise sehr gut zu essen. Aber er rät zur Vorsicht: wenn wir uns an das gute Essen gewöhnen, so fehlt uns etwas, wenn wir es nicht mehr bekommen. Unlust ist die Folge.
Die Haltung zu allem, was über die Deckung der Grundbedürfnisse hinausgeht, sollte also immer mit Distanz verbunden sein, um es richtig genießen zu können und um den Genuss nicht mit Ängsten zu vergällen.
So weit zur antiken Theorie. Nehmen wir an, dass ich etwas richtig gerne tue. Beispielsweise Philosophieren. Oder malen. Es sind keine Grundbedürfnisse, ich müsste also eine distanzierte Haltung annehmen. Aber wie soll diese ausgestaltet werden, ohne dass auf der einen Seite Abhängigkeit entsteht, aber auf der anderen Seite die Freude und Begeisterung erhalten bleiben?
Schwierig. Stoff zum Nachdenken.

Exzerpte

Zu Marc Aurels Zeiten – also lange vor Erfindung von Fotokopierern und Zwischenablagen – war es eine übliche Technik, sich aus (zu der damaligen Zeit extrem teuren) Büchern Teile abzuschreiben. Dass dabei nur die Teile kopiert wurden, die dem Schreiber wertvoll erschienen, versteht sich bei diesem doch etwas mühsamen Verfahren von selbst. Auf diese Weise konnte ein gebildeter Römer sich eine Sammlung von Textstellen schaffen, die sich in ihrer Verdichtung perfekt als Ausgangspunkt für eigene Gedanken eignete.
Diese Funktion als Katalysator macht eine Textsammlung auch heute noch zu einem interessanten Instrument der Lebenskunst.
Dabei ist es natürlich nicht mehr notwendig, das Verfahren handschriftlich durchzuführen, denn die Technik macht das Kopieren zu einer mühelosen Tätigkeit. Zu mühelos. Denn allzu leicht kann so Qualität durch Quantität ersetzt werden.
Andererseits bleibt mithilfe moderner Technik – vorausgesetzt man beschränkt sich auf wichtige Exzerpte – mehr Zeit zum Nachdenken. Und darum geht es ja eigentlich.


Zeit fürs Glück

Eine Beweisführung, die an Trivialität kaum zu überbieten ist: Je mehr Dinge man benötigt um glücklich zu sein, um so weniger glücklicher wird man sein. Denn sich in den Besitz dieser Dinge zu bringen ist ein Aufwand (Geld verdienen etc.), der Zeit kostet und nicht unmittelbar glücklich macht. Die „glücksfreie“ Zeit nimmt also zwangsläufig zu Ungunsten der potentiell glücklichen Zeit zu.
Diese Gleichung gilt sowohl für Habenichtse wie für Milliardäre.
Durch Verzicht wird zwar niemand zwangsläufig glücklicher, aber er hat wenigstens mehr Zeit dazu.

Enthaltsamkeit

Foucault berichtet, dass sowohl Epikureer als auch Stoiker sich regelmäßig in Enthaltsamkeit – also beispielsweise Fasten – übten. Sie taten das allerdings aus sehr unterschiedlichen Gründen. Bei den Stoikern ging es darum, sich die Sicherheit zu verschaffen, dass man selbst auf dem Niveau von Sklaven, mit Sitte und Anstand und ohne eine Störung der Seelenruhe leben kann (einer der bekanntesten Stoiker – Seneca – war der reichste Mann Roms). Die Epikureer hingegen wollten sich mit dem Verzicht immer wieder in Erinnerung rufen, dass es nur wenig bedarf, um genussvoll zu leben und sich natürlich die Genüsse lebendig erhalten.
Eine moderne Variante des Verzichts lebte Thoreau. Er beschränkte sich auf das Lebensnotwendige, um frei sein zu können.
So unterschiedlich die Motive sind, so ist ihnen doch gemeinsam, dass es beim Verzicht nie um Selbstkasteiung und Leiden ging. Im Gegenteil: der Verzicht soll bei allen helfen, Leiden zu vermeiden und zu einem erfüllteren Leben beitragen.


Maßstab

Ich bin bereits über 350.000 Stunden alt. Das sollte mir zu denken geben, wenn ich das nächste mal ungeduldig werde, weil ich auf etwas warten muß.
Bemerkenswert, wie ein Wechsel der Einheit die Perspektive ändert.