Schächtelchen

Vor Jahren las ich in der Spektrum der Wissenschaft von einem Gedankenexperiment, das sehr schön illustriert, warum uns in der Jugend die Welt vielfältiger und abwechslungsreicher vorkommt als im Alter. Es war sinngemäß, wie folgt beschrieben:
Als Erstes stelle man eine große Anzahl kleiner Schächtelchen auf. Danach setze man sich auf einen Stuhl und beginne, mit Kügelchen um sich zu werfen. Jedes der Schächtelchen symbolisiert nun eine mögliche Erfahrung und ein Treffer ist der Moment, in dem man diese Erfahrung macht.
Es ist jetzt leicht nachzuvollziehen, dass man zu Beginn des Spiels häufig Schächtelchen zum ersten Mal trifft. Je länger das Spiel dauert, umso häufiger landet die zweite, dritte, x-te Kugel in einer Schachtel. Und um so seltener gelingt ein Ersttreffer.
Es ist eine Binsenweisheit, dass uns Neues wesentlich stärker im Gedächtnis bleibt als seine Wiederholungen.
Die Schlussfolgerung ist offensichtlich: Dadurch, dass die Anzahl neuer Erfahrungen pro Zeiteinheit beständig sinkt, wird das Leben im gleichen Maß fader. Wer das nicht möchte, der hat nur eine Möglichkeit: Aufstehen und neue Schächtelchen aufstellen.
Aber Vorsicht: Erfahrung heißt nicht notwendig angenehme Erfahrung. Die Schächtelchen symbolisieren nur ganz neutral Erfahrungen und sagen nichts darüber, ob sie uns angenehm ist. Das gilt auch für die neu aufgestellten Schächtelchen.
Wer davor Angst, der sollte ruhig auf seinem Stuhl sitzen bleiben und gar nichts mehr tun.


Vor dem Einschlafen

Die Klassiker der Selbstsorge empfehlen abends vor dem Einschlafen den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen und sich zu fragen, was gut gelaufen ist und an welchen Stellen man nicht mit sich zufrieden war. Das Ganze ist nicht als selbstquälerischer innerer Gerichtsprozess gedacht, sondern sollte wie die Überprüfung des Kofferinhaltes vor einer Reise ablaufen. Das Ziel ist es aus den alltäglichen Kleinigkeiten seine Lehren zu ziehen und nachzuhalten, ob man sich an die bereits gezogenen Lehren gehalten hat. Und alles andere sollte erfreuen und die Nachtruhe angenehmer gestalten.
Dieser Ratschlag ist – jedenfalls für mich – gut zu befolgen und macht das Leben etwas bewusster. Der Gegenpol zu diesem Rat, nämlich morgens gleich den anbrechenden Tag zu planen, ist zwar sinnvoll, aber für mich als ausgesprochenen Morgenmuffel nicht wirklich umsetzbar.



Ich mache mir aus einem
Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben.
[…]Aber das Beispiel muss durch das sichtbare Leben und nicht bloss
durch Bücher gegeben werden, also dergestalt, wie die Philosophen
Griechenlands lehrten, durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte
mehr als durch Sprechen oder gar Schreiben.

Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen


Besser kann man den Maßtab, an dem sich ein Philosoph, der über das Leben redet, messen lassen muss, nicht beschreiben.